Sa 10.3.2001
Wenn die Stadt vom Rand her kulturell zu keimen beginnt
Ateliers, Kunst-Weg, Plattenarchiv, Speisesaal, Lounge, Labor: Auf dem nt-Areal hat die Kultur rasch Fuss fassen können
Von Betonflächen, Geleisen und internen Zufahrtsstrassen zerschnitten: das nt-Areal, ein aufkeimendes Niemandsland, eine Pufferzone im Würgegriff der Autobahnen. Foto Koma

 

 

 

 

 

 

Man würde kaum vermuten, wie viel disparate Begehrlichkeit sich auf dieses öde Stück Land richtet. Grau, von Betonflächen und internen Zufahrtsstrassen zerschnitten, überlagert vom rangierenden Schwerverkehr, erstreckt es sich unter dem grauen Winterhimmel, gesäumt von Nord- und Osttangente, der Schwarzwaldallee im Westen und dem Rosentalquartier im Süden. Es ist ein Niemandsland hier hinten, eine Pufferzone im Würgegriff der Autobahnen.
Und trotz allem ringen seit Jahren unterschiedlichste Parteien um das Areal des DB-Güterbahnhofs, als handle es sich um ein urbanes Dorado. Tatsächlich birgt das 18 Hektaren grosse Gelände ebenso unscheinbare wie nachhaltige Schätze; städtebaulich ist es eines der letzten grösseren Entwicklungsgebiete, weshalb der Kanton Basel-Stadt auf dem Areal dereinst ein neues Wohn- und Arbeitsquartier aus dem Boden stampfen möchte.
Die Quartierverantwortlichen der angrenzenden Quartiere sehen im Areal eine Chance, die strukturellen Defizite des unteren Kleinbasels auszugleichen, als da wären: fehlende Grünflächen und Erholungszonen, fehlender Zugang zum Naherholungsgebiet Lange Erlen. Der Bund für Naturschutz interessiert sich für die auf dem Areal erhaltene Natursubstanz: Zwischen den Schotterflächen der Bahngeleise spriesst eine seltene und wertvolle Vegetation, die zu schützen ist, auch vor den Baggern, die dereinst hier das Quartier ausheben werden.

Blockierte Energien

Und dann sind da noch die Kulturschaffenden. Auf der Suche nach brachliegenden Räumen und der Möglichkeit, Visionen von einer urbanen Stadtkultur zu verwirklichen, stiessen zwei Stadtplaner, Philippe Cabane und Matthias Bürgin Mitte der neunziger Jahre unabhängig voneinander auf das DB-Areal und erkannten, dass viel Wasser noch den Rhein hinabzufliessen hätte, bis das Areal zur Baureife gediehen sein würde. Wäre es nicht reizvoll, einem Unort, der zum Stadtteil heranreifen sollte, ein Gesicht zu geben? Flugs steckte man Zwischenzeit und Zwischenraum ab und begann, den Ort zu umwerben.
Nun könnte man arglos schliessen, dass sich diese unterschiedlichen Interessen ganz hübsch entgegenkommen - allein ein Faktor blieb bis hierher unerwähnt, der Haken an der Geschichte: Die Eigentümerin des Areals, die DB AG verwarf Mitte der 1990er Jahre den ursprünglichen Plan, das Areal an den Kanton Basel-Stadt zu veräussern. Seither stecken beide Parteien in zähen Verhandlungen über einen städtebaulichen Rahmenvertrag, der die spätere Nutzung regeln soll. Die Lage ist kompliziert: Nicht nur können die beiden Verhandlungspartner des Kantons, die zwei privat organisierten DB-Tochtergesellschaften Deutsche Bahn Immobiliengesellschaft (DBImm) und die EisenbahnImmobilien-Managementgesellschaft (EIM) sich intern nicht auf einen Standpunkt einigen, auch findet man keine Lösung in der Frage, wie gross der zu überbauende Teil des Areals sein soll.
Da rücken Lebensqualität und Kultur schnell mal in den Hintergrund. Der Durchbruch in den Verhandlungen wird zwar unermüdlich angekündigt, wie zuletzt in der Regierungsbilanz 2000, oder im Januar 2001 mündlich gegenüber der BaZ. Allerdings sind auf die Worte bisher noch keine Taten gefolgt.

Wirksame Akupunktur

Ein parlamentarischer Vorstoss im Basler Grossen Rat, der die Verramschung des Areals befürchtete und ein Konzept für die unkoordiniert bewilligten «Verlegenheitsnutzungen», wurde abgeschmettert. Man verwies auf den zweiten planerisch-städtebaulichen Ideenwettbewerb, der «auch allfällige Bewilligungen von Provisorien oder Zwischennutzungen auf ihre längerfristigen Auswirkungen hin beurteilen» lassen solle. Das war 1996; der auf 1999 geplante Wettbewerb ist bisher noch nicht mal ausgeschrieben worden. Die Situation auf dem Areal käme einem absoluten Stillstand gleich, hätten sich nicht ein paar Kulturschaffende zäh ihrer Vision entlang getastet und gezeigt, dass ein anderes, flexibleres Vorgehen durchaus auch möglich ist.
Blockierte Energien können, so weiss die chinesische Medizin, seriöse Beschwerden nach sich ziehen. In diesem Bewusstsein traten Philippe Cabane und Matthias Bürgin in Aktion. Im Juni 1999 veröffentlichten sie ihre vom Verein «b.e.i.r.a.t.» unterstützte Studie «Akupunktur für Basel», in der sie Konzepte für allfällige Zwischennutzungen auf dem brachliegenden Areal entwickeln und aufzeigen, inwiefern diese «informelle Planung», wie sie es nennen, auch der späteren formellen Planung eines neuen Stadtquartiers von Nutzen sein könnte: Das Areal sei durch ungünstige Standortqualitäten, namentlich die Autobahn belastet, eine städtische Identität als Entwicklungsfaktor fehle bislang, alles Missstände, denen es entgegenzuwirken gelte, solle dereinst dort ein Stück lebendige Stadt entstehen, so ihre Argumentation.
Flexible Zwischennutzungen zu initiieren und zu koordinieren, einen Keim zu legen, war die Idee, die allen nur zum Vorteil gereichen könne: Das noch unbekannte Stadtgebiet rücke in den Wahrnehmungshorizont der Bevölkerung, werde so urbanisiert und aufgewertet, die positive Standortentwicklung diene wiederum zur besseren Vermarktung des DB-Güterareals - eine klassische Win-Win-Situation. Den Ängsten vor einem wilden Besetzungsszenario begegneten die Initianten, indem sie ein partnerschaftliches Verhältnis mit Stadt, Eigentümer und interessierten Kreisen des Quartiers anstrebten. Die Studie verhallte nicht ungehört: Die Quartierkoordination unteres Kleinbasel, aber auch die Medien und der Verband der Natürschützer spitzten die Ohren.

Positive Bilanz

Einzelne Politiker wie Markus Ritter oder Ruedi Bachmann, verschiedene Stiftungen (Sophie-und-Karl-Binding-Stiftung, Jacqueline-Spengler-Stiftung, GGG) und schliesslich die Eigentümerin DB AG zeigten sich vom Konzept überzeugt, so dass der Verein «keim», zu dem noch Jeanny Messerli stiess, Ende 1999 einen zweijährigen Mietvertrag für die Kantine, das Wagenmeistergebäude sowie die als schützenswert erachteten stillgelegten Gleisfelder abschliessen konnte.
Alles schien in Butter, aus dem DB-Areal wurde das nt-Areal (für non-territorial), ein Gastroteam fand sich und verwandelte die ehemaligen Bähnlerkantine in ein Restaurant, man machte sich ans Renovieren, der Verein heckte Konzepte und Ideen aus, plötzlich gab es Leben auf dem Areal. Die Pläne waren hochfliegend, die Ideen ausgreifend, die Unterstützung von Quartierseite vorbildlich, bis dann, kurz vor der Eröffnung des Restaurants der Amtsschimmel wieherte. Mit viel Ach und Krach erlaubten schliesslich die Behörden im letzten Moment eine «Gelegenheitsbewirtschaftungsbewilligung», so dass «Erlkönig» und Lounge rechtzeitig auf die Kunstmesse Art hin doch noch ihre Tore öffnen konnten. Die Kulturszene stürzte sich nur so auf den neu eröffneten Laden, trank dort Cüpli und konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass hier der lebendigste Ort der Stadt sei, die deshalb den Vergleich mit irgendeiner Grossstadt für ein Mal nicht zu scheuen brauche.
Seit vergangenen Juli hat also der Verein freie Hand, die in seiner Studie gezeichneten Visionen einer zwischenzeitlichen Belebung des Areals zu verwirklichen. Was beinhalteten diese Vorstellungen, was ist bereits umgesetzt? Der «Speisesaal», die «Lounge», das «Labor», der «Weg», die «Galerie» - so lauten die Stichworte zu den vordringlich zu realisierenden Projekten, wie sich dies auf der Homepage zum Areal nachlesen lässt.
Die Bilanz schaut ordentlich aus. Der Speisesaal - das Restaurant Erlkönig - hat sich zu einem beliebten Treffpunkt für ein eher etabliertes als alternatives Publikum gemausert (Reservation unbedingt erforderlich). Ebenso ist die Lounge mit ihren diversen Veranstaltungen aus dem Club- und Konzertbereich im Basler Nachtleben ein kaum mehr wegzudenkender Magnet. Im Rahmen der Galerie sind während dieses halben Jahres immer wieder grössere und kleinere Installationen, Performances, aber auch Kinofilme und Videoarbeiten auf dem Areal zu sehen gewesen. Komplizierter wird es bei offenen Einrichtungen wie dem «Labor», oder an die Bewilligungsbehörden gebundenen Projekten wie der «Weg». Ein Baubewilligungsgesuch, um einen Weg vom Rosentalquartier über das Areal in die Langen Erlen realisieren zu können, der als Artefakt die Besucher auf das Areal locken sollte, blieb irgendwo in den Mühlen der DB AG-Bürokratie hängen.
Das Labor hingegen, womit eine Denkwerkstatt gemeint ist, brodelt. In diesem Rahmen sind etwa die sporadischen Veranstaltungen, Führungen, Diskussionsrunden zu sehen, aber auch Zwischennutzungen wie die der Künstlergruppe «airline», die im Dezember das Wagenmeistergebäude als temporäres Atelier nutzte, oder die Unterbringung der immensen Plattensammlung aus dem Künstlerkollektiv @home, die nun dort als DJ-Matrix zugänglich ist.
Trotz der positiven Bilanz geben sich die Initianten selbstkritisch. Es sei noch Grosses zu verwirklichen. «Im Moment werden wir vor allem als Bar und Beiz wahrgenommen», so Matthias Bürgin. Als Hauptaufgabe betrachtet es der Verein, weitere Projekte zu verwirklichen, die Bewohner der angrenzenden Quartiere anzusprechen, integrativ zu wirken, nachhaltige Projekte anzuzetteln.

Subtiles Kraftfeld

Ideen gibt es genug: In der 20 000 Quadratmeter umfassenden Lagerhalle visioniert man etwa einen Multikulti-Markt, der «Weg» soll endlich realisiert werden, auf dem Areal wird gegärtnert und gepflanzt. Überhaupt wird im Sommer vieles möglich sein: Anders als bei anderen Zwischennutzungen steht auf dem DB-Areal nicht so sehr der Innen-, sondern der Aussenraum als nutzbare Fläche zur Verfügung - und der Sommer bietet hier nun mal die besseren Bedingungen als der Winter. Dass die Belebung des Areals Energien zum Fliessen gebracht hat, ist so gut wie sicher.
Schon jetzt hat die Akupunktur nämlich ein subtiles Kraftfeld der Anziehungen geschaffen: Das ehemalige Verwaltungsgebäude der DB AG an der Erlenstrasse stand bis im Herbst 2000 zu 60 Prozent leer. Nun gibt es da eine Galerie, Künstlerateliers, Anwälte, Grafikerbüros, Architekten. «Es gibt Mieter, die nicht nur ein Rauminteresse haben, sondern auch in einer sympathischen Verbindung zu uns stehen», so ist Cabane überzeugt. «Der Effekt ist aber auch noch weiter zu beobachten: Vielleicht haben wir auch eine Anziehungskraft für innovative Menschen, die in der näheren Umgebung eine Wohnung suchen. Dadurch würden wir zu einem echten Entwicklungsfaktor für das Quartier.»

Von Michèle Binswanger