Basler Zeitung
Samstag/Sonntag
14./15 Oktober 2000
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Vor- und Querdenker der Zwischennutzung brachliegender Lebensräume: Philippe Cabane auf dem Areal der DB.Foto Tino Briner<BR>

Vor- und Querdenker der Zwischennutzung brachliegender Lebensräume: Philippe Cabane auf dem Areal der DB. Foto Tino Briner


«Wir sind Leute mit Gründerlust - dafür brauchen wir Raum»

Hat Basel das Zeug zur Metropole? Was macht die Urbanität einer Stadt aus? Was geschieht auf dem Areal der Deutschen Bahn? Philippe Cabane, Städteplaner ohne öffentliche Ämter, hat Antworten. Sie decken sich zwar nicht mit etablierten Stossrichtungen. Aber decken sich Letztere mit der Realität? Cabane ist ein Querdenker, ein konstruktiver.

BaZ: Philippe Cabane, Sie organisieren alternative Kulturprojekte. Sie sind DJ. Sie sind ein Nachtmensch. Sie experimentieren. Sollte das Leben mit vierzig nicht anders aussehen?

Philippe Cabane: Aha. Die Frage nach den Lebensabschnitten. Studentenzeit, in der man sich auslebt. Der Abschluss. Die Arbeit. Die Familie. Man erwirtschaftet sich etwas Eigentum und Sicherheit und kann sich dann ein gutes Pflegeheim leisten.

Auf all das haben Sie verzichtet. Ist Basel für Ihre urbane Art von Leben ein gutes Pflaster?

Hier fällt mir vieles einfacher. Ich habe meine Beziehungen und affektiven Fixpunkte, wie die Fasnacht. Im politischen Sinn kommt Basel der klassischen Demokratie, der Polis, mit ihren 50'000 Einwohnern sehr nah. Die einzige Alternative in der Schweiz wäre Zürich. Es boomt gerade. Es übernimmt die Rolle der Metropole. Denken Sie an seinen neuen Slogan, «Downtown Switzerland».

Welche Rolle könnte Basel im Städtenetz Schweiz übernehmen?

Sie nehmen wohl Bezug auf jenes Konzept der «Grossstadt Schweiz». Auf der einen Seite also gibt es diese massiv wachsenden Metropolen. Auf der anderen Seite gibt es Gebiete mit kleineren Städten, die nahe beieinander liegen. Das Ruhrgebiet und die «Randstadt» in Holland sind solche Beispiele.

Randstadt?

Das ist ein Städteverbund im holländischen Flachland. Gegenüber der boomenden Metropolen können diese Gebiete auch mithalten, weil sie die metropolitanen Funktionen auf die einzelnen Städte verteilen.

Was wäre die Funktion von Basel, wenn man dieses Konzept auf die Schweiz anwendete?

Das ist die grosse Frage. Bern ist als Hauptstadt das administrative Zentrum. Zürich ist der Finanzplatz und Dienstleistungsstandort. Basel hat seine traditionelle Rolle als Industriestadt, und zwar in einem Sektor, der floriert.

Das Wort «Kulturstadt» fällt immer wieder.

Ach ja, richtig. Das Kunstmuseum, das Theater. Im pflegenden Bereich passiert da einiges. Aber an der Basis, dort wo die Avantgarde sich entfalten kann, da hat Basel an Zürich abgegeben. Hier riskiert man viel weniger, geht vorsichtiger an Dinge heran.

Zum Beispiel?

Dort, wo das Leben, der Alltag kulturell gelebt wird. In Basel fehlt eine Dynamik im Lebensgefühl. Es fehlt dieses kollektive Lebensgefühl, dass etwas vorwärts geht.

Basel ist also keine Metropole?

Ganz klar nein.

Was zeichnet eine Metropole überhaupt aus?

Sie übernimmt sämtliche wesentlichen Funktionen einer Stadt: Sie ist Wirtschafts-, Kultur-, Verkehrs-, Bildungszentrum. Sie hat international Einfluss.

Wo ordnen denn die Basler selbst ihre Stadt ein?

Basel hat ein eigentümliches Selbstverständnis von Grösse, kulturell, wirtschaftlich. Historisch gesehen hatte es diese Grösse ja auch. Aber heute nimmt Basels Gewicht im Verhältnis zu anderen Zentren eher ab.

Das ist ein düsteres Bild, das Sie da zeichnen.

Wieso denn? Dadurch wird Basel ja nicht zu einem schlechteren Ort. Das kann auch eine Chance sein. Schnelle Dynamiken können dadurch ja auch besser abgefangen werden. Basel muss sich aber darüber klar werden, wie es innerhalb des Systems seine Rolle wählt. Eine Rolle ist ja auch eine Identität. Da habe ich bei Basel schon düsterere Gefühle. Basels Identität ist viel zu stark in der Vergangenheit verhaftet. Es hat sehr bewahrende Reflexe. Ich nenne das das «Barcelona-Syndrom». Madrid boomte. Barcelona war lange träge, denn es war ja schon alles da: Museen, tolle Architektur, Geistesgeschichte.

«Baselona»?

(lacht) Auch Basel hat ja schon die ganze Kultur. Es hat eine der besten Kunstmessen der Welt.

DIE beste Kunstmesse, bitte.

Sorry... All das sollen wir ja auch weiterhin pflegen dürfen. Aber es gibt den Blick in eine Zukunft, die in der Gegenwart fusst.

Und den Blick gibts in Basel nicht?

Das wird doch immer wieder kritisiert: Es fehle an Visionen. Kommen wir aber auf die eigentliche Frage zurück: Ist Basel fortschrittlich? In Sachen Drogen und Integration hat Basel viel mehr aus der Gegenwart heraus gehandelt. Seine Strategie war nicht visionär, sondern pragmatisch. Solche Dinge kriegt man nicht mit Visionen hin. Aber von solchen Dingen lebt der Innovationsgeist einer Stadt.

Mit der anvisierten Wiedereinführung der Polizeistunde kam die Befürchtung auf, Basel entwickle sich wieder zu einem Dorf.

Diese Tendenz ist eindeutig da. Schauen Sie sich nur die Lockvogelpolitik für gute Steuerzahler an: Leute, die gute Preise für ihre Wohnung bezahlen, reklamieren natürlich schneller. Also geht man einen Schritt rückwärts und fängt an, zu blockieren, was sich urban anfühlt. Aber eine Stadt braucht ein pulsierendes Lebensgefühl. Vor allem ihr jüngeres Publikum. Ich lebte lange an der Feldbergstrasse. Das war nach Paris der einzige Ort, wo ich ein Gefühl von Grossstadt hatte.

Ausgerechnet im Matthäusquartier, dem Schandfleck von Basel?

Ein Schandfleck, weil man nach den gängigen Kriterien auf all die so genannten Probleme der Stadt stösst. Aber es passiert auch unheimlich viel. Es hat viele junge Leute, viele aktive Ausländer, die neue Gefühle in ein Quartier bringen. Es hat Läden und Restaurants, die am Wochenende und bis in die Nacht offen sind. Für alle Jungen, die unregelmässig und viel arbeiten, ist das ein tolles Angebot. Das sind Dinge, die man in Metropolen findet.

Basel unterbindet also seine Urbanität. Was sind die Konsequenzen für jene Leute, auf die Basel in der Zukunft angewiesen ist?

Jede Stadt lebt von ihrem Nachwuchs. In der Politik werden alle alt, aber niemand wird jung; deshalb vergisst man oft die Jungen. Bei ihnen aber ist die Phantasie. Sie haben geringere materielle Bedürfnisse, möchten aber in der Nähe einer Subkultur leben, um ein Netz von gegenseitiger Hilfe zu haben. Eine Stadt muss Raum bieten für diese informellen Systeme von Jungen, die Lust darauf haben, ihre Pläne zu verwirklichen.

Immer diese «Räume». Ist «Raum» in der Jugendkultur nicht zu einer mythischen Forderung geworden?

Raum ist ein realer, ganz zentraler Lebensaspekt.

Ginge es nicht eher um Inhalte?

Man kann Inhalt nicht einfach so im luftleeren Raum fabrizieren. Sehr oft ist der Raum überhaupt die Voraussetzung für die Konkretisierung von Inhalten. Es besteht eben enger Zusammenhang zwischen Raum und Inhalt.

Wo steht Ihr Projekt im DB-Areal in diesem Zusammenhang?

«nt/Areal» ist nicht «mein» Projekt. Eine Vielzahl von Menschen hat es initiiert. Jeannette Messerli zum Beispiel hatte das Projekt «kurt» unter der Dreirosenbrücke, wo sie Künstlern Räume für einen oder zwei Monat zur Verfügung stellte.

Sozusagen die Zwischennutzung einer Zwischennutzung?

Ja, genau. Bei Jeannette habe ich immer sehr spannende Projekte gefunden, von denen ich fand, sie gehören in die Stadtplanung. Nur habe ich sie in der offiziellen Stadtplanung bisher vermisst. Zwischennutzung, wie wir das verstehen, hat eben eine andere Qualität als die Ansprüche einer früheren Generation auf eigene Territorien für neue Lebensformen. Wie bei einem Staat. Wir aber haben diese Territorialität aufgegeben und planen nicht zu weit in die Zukunft. Wir wollen doch nicht in eine politische Diskussion geraten, die uns wieder blockiert.

Aber diese politische Diskussion findet statt. Hätten Sie da nicht mitzureden?

Möglich. Aber erst gestalten wir die Gegenwart.

Das klingt, als ob man brachliegende Gebiete eine Zeit lang dem Chaos überlassen muss, damit Urbanität entstehen kann. Meinen Sie das?

Man kann das Prinzip der Drei-Felder-Wirtschaft in der Stadt anwenden. Die Stadtplanung muss bewusst Freiflächen aussparen. Denn genau an diesen Orten entfaltet sich innovatives Potenzial.

So wie das Unkraut hinter der DB-Kantine aus dem Boden schiesst?

Warum nicht? Jeannette Messerli und ich hatten mal das Projekt «Aussaat». Wir wollten im DB-Areal ein Sonnenblumenfeld säen. Die Bevölkerung hätte dort Blumen pflücken und etwas von diesem Areal mitnehmen können. So wollten wir einen Bezug schaffen zwischen der Bevölkerung der Stadt und dem Areal. Leider kam das Projekt damals nicht zu Stande.

Man sieht oft, dass alternative Lebensräume institutionalisiert werden, siehe Kaserne.

Sloterdijk nannte das «den Hang zur natürlichen Verdickung». Das ist normal, nicht dramatisch. Aber das machen dann andere. Wir sind Leute mit Gründerlust. Das ist die grosse Lust. Warum gibt es all diese Do-it-yourself-Läden? Nicht weil die Leute sparen wollen. Sie wollen selbst etwas schaffen. Wir wollen aus Alltagssituationen einen Reichtum erzeugen. Die Vielfalt, die Differenz, die Kontraste, das sind Elemente des Urbanen. Je mehr Wahrnehmungen sich treffen und Erinnerungen erzeugt werden, desto mehr schreibt dieses Areal eine Geschichte: jene des Wechsels von einem Güterbahnhof zu einem lebendigen Teil dieser Stadt.

Interview Matthias Wyssmann


zum SeitenanfangPhilippe Cabane

yss. Philippe Cabane wurde 1960 in Basel geboren und wuchs in Biel-Benken auf. Cabane studierte in Basel, Lausanne und Berlin, hat ein Lizentiat in Soziologie, Philosophie und Geografie und absolvierte ein Nachdiplomstudium in Städteplanung am Institut français d'urbanisme in Paris.

In jüngerer Zeit fiel er in Basel durch die Studie «Akupunktur für Basel. Standortentwicklung durch Zwischennutzung» (mit Matthias Bürgin) auf. Er arbeitet als Redaktor des «Schweizer Ingenieur und Architekt» in Zürich und als frei erwerbender Projektentwickler in Basel. Vor allem aber hat er das Projekt «nt/Areal» auf dem Güterbahnhof der Deutschen Bahn mitbegründet.


zum Seitenanfang Konstruktiver Umdenker

Er sieht jünger aus, als er ist. Und so lebt er auch. Nicht etabliert. Legt nach wie vor Platten in Off-Lokalen auf. Lässt sich einfach nicht einrangieren
in Familie, Karriere... Aber Philippe Cabane hat einen Leistungsausweis, der sich sehen lassen kann (sonst hätten wir ihn nicht befragt). Wobei im Bauberuf Leistungen normalerweise in Stein, Mörtel, Armierungsstahl, Beton oder Asphalt gemessen werden. Bei Cabane ist das etwas anders. Der denkt eben viel nach und experimentiert.

Auf dem Güterbahnhof der Deutschen Bahn haben Cabane und seine Kollegen einen Spielraum entdeckt, der für ein Laboratorium für urbanes Lebensgefühl wie geschaffen ist. Laut Cabane wird Urbanität in Basel zu sehr erstickt. Die Stadt unterbinde so ein Energiepotenzial, das für eine Expansion in die Zukunft nötig wäre, so Cabane: Eine kalte Dusche für Basler Selbstbeweihräucherer, die von der Metropole träumen und selten über die Kleinstadt hinausblicken.
Für Waage-Geborene gilt der Leitspruch «Ich berechne». Für Cabane gilt das bestimmt nicht im materiellen Sinn. Er argumentiert nie extremistisch und scheint lieber die verschiedenen Seiten eines Problems abzuwägen. Wie sich das für einen Städteplaner ziemt, der auf die Harmonie der Stadt bedacht ist.
Matthias Wyssmann


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