Bericht der Fachzeitschrift «wohnen» des SVW (erschienen in der Sonderbeilage vom .?.)

Das DB-Areal in Basel - Freiraum heute, ein Stück Wohnqualität morgen

Hinter den sieben Gleisen – ein Idyll auf Zeit

Text: Philippe Cabane

Die Deutsche Bundesbahn besitzt in Kleinbasel ein Güterbahnhofareal, das sie nicht mehr braucht. Bis es bebaut wird, können noch Jahre verstreichen. In der Zwischenzeit hat eine initiative Gruppe den ungewöhnlichen Freiraum in Beschlag genommen. Dank ihren Projekten und Ideen wird ein Teil der grosszügigen Fläche vielleicht dereinst der Allgemeinheit erhalten bleiben.

Wer an einem Werktag das ehemalige Güterbahnhofareal betritt, trifft noch immer auf einen Warenumschlagplatz: Reihen schwerer Trucks und Containerpritschen entlang der 20 000 m2 grossen Güterumschlaghalle wie auch der Ladestrassen auf dem offenen Gleisfeld. Wer aber genauer hinsieht, wird bemerken, dass das Treiben der Brummis bald einmal der Vergangenheit angehört. Am Eingang zum Bahnareal stehen ein Menükasten mit Veranstaltungshinweisen und ein Briefkasten mit zwei Namen: Restaurant Erlkönig und Verein keim. Gut dreihundert Meter durchs Gleisfeld führt dann ein geheimnisvoller Weg bis zum mittlerweile ersehnten Ziel der Basler Kulturszene. Dort, in der ehemaligen Betriebskantine und der Wagenmeisterei, verwandelt sich der Ort am Abend und an Wochenenden zum neuen öffentlichen Freiraum. Mehr als das: Unter dem Label «nt/Areal» scheint sich dort ein Hauch der Zukunft abzuzeichnen.

KÖNIGSKERZEN UND JAKOBSKRAUT
Das Areal befindet sich an der Schnittstelle zwischen Wohnquartieren und den angrenzenden Langen Erlen, einem dem Wiesenufer entlang nach Deutschland führenden Waldstreifen. Der Zugang zu diesem wichtigsten Naherholungsgebiet für Kleinbasel bleibt jedoch wegen der riesigen Bauten der Autobahnverzweigung sowie der Eisenbahnlinie wenig attraktiv. Neben der Bedeutung des Areals als Bindeglied im Netzwerk der Basler Freiräume finden sich hier Magerrasen und Pionierpflanzen, wie sie fast ausschliesslich noch an exponierten und trockenen Schotterflächen wie eben auf Bahnarealen anzutreffen sind. Zusammen mit Königskerzen, Jakobskraut oder verschiedenen Ampferarten
prägen insgesamt 450 Blütenpflanzen das einzigartige und untypische Landschaftsbild. 1997 führte der Kanton Basel-Stadt in Zusammenarbeit mit der Deutschen Bundesbahn einen öffentlichen städtebaulichen Ideenwettbewerb durch. Damit sollten die Grundlagen für die Formulierung und Unterzeichnung eines städtebaulichen Rahmenvertrags erarbeitet werden. Auf der Basis dieses Vertrags soll ein zweiter Wettbewerb die Zielsetzungen soweit konkretisieren, dass durch eine Umzonung die rechtlichen Bedingungen für eine Bebauung und damit der Verkauf an potenzielle Investoren erst sinnvoll wird. Seit Abschluss des Wettbewerbs ringen Kanton und Eigentümerin um diesen Vertrag. In regelmässigen Abständen zitierte die «Basler Zeitung» die Behauptung von Seiten der Projektverantwortlichen, dass der Vertrag in Kürze unterschrieben sein sollte. Die Verhandlungen blieben jedoch bisher erfolglos.
Bis vor einem Jahr war das Areal für die Öffentlichkeit unzugänglich. Wer sich ohne Arbeiterkluft trotzdem darauf wagte, wurde bald von einem Angestellten des Deutschen Bahnunternehmens zurückgepfiffen und nach aussen verwiesen. Mit dem Zwischennutzungsprojekt nt/Areal hat sich dies geändert. Das Areal ist öffentlich zugänglich geworden.

DIE ZEIT NUTZEN
Hintergrund des Zwischennutzungsprojektes nt/Areal war die Skepsis gegenüber dem vom Hochbau- und Planungsamt gewählten Verfahren für die Entwicklung des Areals. Denn bei Grossprojekten dieses Ausmasses können ohne weiteres zwei Jahrzehnte bis zur Fertigstellung verstreichen – umso mehr, weil die Überbauung des Gebiets für Investoren durchaus mit Risiken behaftet ist. Es befindet sich nämlich nicht an einem privilegierten Standort. Die Wohnungen in den angrenzenden Neuüberbauungen sind bereits heute nur schwer vermietbar und werden im schlimms-ten Fall fast ausschliesslich an benachteiligte Gruppen vergeben. In der Folge sinkt das Ansehen und damit die Standortqualität des ganzen Viertels.
In diesem Zeitraum bis zur zukünftigen Überbauung des Areals steckt ein Potenzial für Nutzungen, die für alle Seiten positive Auswirkungen haben können. Freiräume und publikumswirksame Angebote spielen hierbei eine entscheidende Rolle. Mit einer geschickten Bewirtschaftung sollen Impulse für eine positive und vielschichtige Identität des Areals als lebendiger städtischer Ort gegeben werden. Das aus diesen Gedanken entstandene Zwischennutzungsprojekt nt/areal (nt für «nicht-territorial») steht für den Grundsatz, Flächen nach Möglichkeit nicht als privatisiertes Territorium zu nutzen, sondern als öffentliche Räume.

BÄHNLERKANTINE ALS RESTAURANT UND «LOUNGE»
Nach zähen Verhandlungen mit den Vertretern der Eigentümerin – der Kanton verhielt sich sehr zurückhaltend – gelang es einem Dutzend von Künstlern und Künstlerinnen, Städteplanern, Architekten und Wirtsleuten, die Räumlichkeiten der leerstehenden Betriebskantine und das benachbarte Wagenmeistergebäude zu Konditionen zu mieten, die es erlaubten, einen Teil der Investitionen in der nur kurz bemessenen Zeit von zwei Jahren zu decken.
Dank der Unterstützung verschiedener privater und halbprivater Donatoren konnten die Initiantinnen und Initianten technische Infrastrukturen anschaffen, die es erlauben, neben dem privat geführten Restaurant Erlkönig mit Barbetrieb auch einen kulturellen Treffpunkt für Konzerte, Tanz und andere künstlerische Events zu schaffen. Hier tummelt sich während der Kunstmesse «Art» die Crème de la crème der Kunstszene und an Clubabenden tanzt das jüngere Publikum bis in die Morgenstunden. An Wochentagen ist «Lounging» in Designersesseln von Charles Eames angesagt. Entscheidend an der Nutzung der Kantine als neues Basler Restaurant war, dass hierfür das Areal öffentlich zugänglich gemacht werden musste. Die zwingende Voraussetzung für eine Nutzung als Freiraum war damit gegeben.

DAS PLANER-LABOR SUCHT EINEN WEG
Ein Labor für Experimente der Stadtentwicklung befindet sich in der benachbarten Wagenmeisterei. Hier werden nicht nur neue Projekte wie die Realisierung einer Wegverbindung in die Langen Erlen geschmiedet, sondern konkret Gäste eingeladen, von denen aktive Impulse für das Areal erwartet werden können. So entstehen Diskussionen, Filmprogramme, Installationen zum Thema Stadt – oder ein zur diesjährigen «Art» zusam-men mit einer Zürcher Gruppe eingerichtetes Forschungscamp mit rund 50 Künstlerinnen und Künstlern.
Während sich Restaurant und Lounge in kürzester Zeit zum Publikumsmagneten mit grosser Medienpräsenz entwickelten, machte man sich im Labor Gedanken über Nutzungsformen für das Areal. Einen Schwerpunkt bildete das Thema Freiraum, speziell im Zusammenhang mit der Wegverbindung in die Langen Erlen. Wegen des provisorischen Charakters (die künftige Lage einer Verbindung in die Langen Erlen ist heute noch unbekannt) konnte es von Anfang an nicht darum gehen, einen Weg von A nach B völlig neu zu konzipieren. Ein gebauter Weg im streng ingenieurtechnischen und landschaftsarchitektonischen Sinn hätte sich gleich doppelt in den institutionellen Mühlen der Deutschen Bundesbahn und der Kantonalen Verwaltung verfangen und wäre daher kaum in sinnvoller Zeit zu erstellen gewesen.
Wie aber könnte ein Konzept für ein insgesamt rund 500 Meter langes Wegstück aussehen, der sich durch äusserste Flexibilität auszeichnet und mit nur 40 000 Franken erstellt werden kann? Was sind überhaupt die minimalen Voraussetzungen, damit wir von einem Weg sprechen können? Natürlich kam bald einmal der Gedanke an Wanderwege im Gebirge auf. Tatsächlich handelt es sich hier nur um Markierungen und gegebenenfalls Trampelpfade, und dennoch haben diese Wege offiziellen Charakter, weil sie im eidgenössischen Wanderwegnetz aufgenommen sind.

ERLEBNISRAUM DER ANDEREN ART
Glücklicherweise hat sich die Einwilligung der Deutschen Bundesbahn für die Realisierung des Teilstücks vom Eingangstor bis zum Restaurant Erlkönig verzögert. Denn gerade die Tatsache, dass kein Weg im strengen Sinne bestand, gab dem Areal den besonderen Charakter. Gäste, die vom hochregulierten Sys-tem der Stadt kommen und das Areal betreten, finden sich in einer völlig neuen, offenen und unregulierten Welt wieder. Diese Verunsicherung löst offenbar eine ähnliche Spannung aus, wie sie viele kennen, wenn sie von einem befahrbaren Weg abweichen und über einen Pfad in eine völlig neue Gebirgslandschaft, in eine Welt der Eigenverantwortung eintauchen.
Wenn also in Eurodisney oder im Europapark versucht wird, mit allen nur möglichen Versatzstücken neue Erlebnis- oder Ereignisräume zu schaffen, ist beim DB-Areal das Erlebnis des Eintauchens in eine völlig andere Welt gegeben, ohne dass man etwas investieren musste. Diese Erkenntnis führte auch dazu, von der herkömmlichen Vorstellung eines Weges abzuweichen und sich im südlichen Abschnitt auf die Beleuchtung zu beschränken. Der nördliche Abschnitt, der vom Restaurant Erlkönig bis zur Wiesenuferpromenade und von da aus zu den ersehnten Langen Erlen führte, war im Prinzip gegeben, aber kaum klar erkennbar. So gab es bereits eine Spur am Rand einer Wiese gegen Norden, von wo aus eine Treppe zum nördlichen Zugangstor führte. Letztere war kaum mehr erkennbar, weil sie vollständig mit Brombeeren überwuchert war.
Als vergangenen Herbst drei Schafe zu Gast auf dem Areal waren, galt es, eine Weide auf dem erwähnten nördlichen Wiesenstreifen einzuzäunen. An Stelle eines Wegs trat ein Zaun als begleitende Wegführung bis zur jetzt vom Brombeergestrüpp freigelegten Treppe und zum inzwischen ebenfalls geöffneten nördlichen Tor. Dieser Abschnitt wurde ergänzt durch drei präzise als Sichtbezüge gepflanzte Kirschbäume. Natürlich waren die Schafe schlauer als der Zaun, bewegten sich bald einmal auf dem ganzen Areal und wurden so zum Anlass, mit diesem oder jenem Lastwagenfahrer oder anderern Nachbarn auf dem Areal ins Gespräch zu kommen. Den Schafen allerdings wurde der Freiheitsdrang zum Verhängnis: Sie wurden polizeilich entfernt!

EIN AUSBLICK AUF NEUE FREIRÄUME
Wenn sich zu Anfang jede Entscheidung von Seiten der Deutschen Bundesbahn als ausserordentlich schwierig und zäh herausstellte, so lichtet sich der Himmel allmählich am Horizont. Inzwischen haben die DB-Projektentwickler am konkreten Beispiel erfahren können, dass mit dem Zwischennutzungsprojekt nt/Areal offenbar eine konkrete Aufwertung des Standortes verbunden ist. So sind Projektideen, die die weitgehend unbebauten Randzonen des Areals als Freiräume nutzen möchten, kein Tabu mehr. Und vielleicht können die Quartierbewohnerinnen und -bewohner dank der Grün- und Freiflächen an den Rändern des Areals bald einmal einen Schulgarten als Nachbarn begrüssen oder sich in den kleineren öffentlichen Grünanlagen aufhalten. Es scheint also für den Stadtplaner doch Sinn zu machen, im Massstab eins zu eins und an der unmittelbaren Gegenwart zu arbeiten. Die Realität des Alltags hat der grossmassstäblichen Planung durchaus etwas voraus. Im Falle des DB-Areals stand das, was selbstverständlich ist und sich aus der jeweiligen und unmittelbaren Situation her ergibt, im Mittelpunkt. Ich freue mich auf den Tag, wo ich die ersten Kinder sehen werde, die sich ob der Kirschen erfreuen.

Philippe Cabane, Soziologe und Städteplaner, ist Mitinitiant des Projekts nt/Areal